Software - Hardware - Gegenwehr 3

Streik bei Digital

12.06.2013 Reihe: Das hatte es bis dahin noch nicht gegeben: Gut bezahlte IT-Experten, die ihre Hightech- Büros verlassen und auf die Straße gehen, um zu streiken. 3/4: Akteure und Taktik

Die Akteure

Selbstbewusste Angestellte

Bis weit in die 1970er Jahre hinein war der Digital-Konzern - wie die meisten Computerfirmen - weitgehend gewerkschaftsfrei. Der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten an der Belegschaft in Deutschland lag gerade einmal bei fünf Prozent. Mit Beginn des Arbeitskampfs 1993 hatten sich an einzelnen DEC-Standorten bis zu 80 Prozent der Belegschaft der IG Metall angeschlossen. Darin zeigt sich ein Bewusstseinswandel der besonderen Art. Zur Zeit des großen Booms in der Computerindustrie war der Bedarf an hoch qualifizierten Elektronikfachkräften, DVFachleuten und Softwarespezialisten enorm. Studienabsolventen aus ingenieur- oder naturwissenschaftlichen Fächern drängten in die Computerbranche, die ihnen beste Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen versprach. Gleichzeitig wurden massenhaft junge Akademiker aus anderen Bereichen umgeschult und für DV-Berufe angeworben. Damit veränderte sich die Belegschaftsstruktur in vielen Hightech-Unternehmen grundlegend. Auch bei DEC wuchs der Anteil an jungen, hochqualifizierten, großenteils akademisch ausgebildeten Beschäftigten beständig. Die deutschen Standorte entwickelten sich durchweg zu reinen "Angestellten"-Betrieben. Die neuen Belegschaftsmitglieder zeichneten sich aber nicht nur durch ihre hohe Qualifikation und Flexibilität aus. Sie brachten auch spezielle, wenig hierarchieorientierte Verhaltensund Kommunikationsmuster mit. Als bei Digital mit dem Ende des Booms und dem Beginn der Umstrukturierungen Status, Einkommen und Arbeitsbedingungen dieser bis dahin relativ gut gestellten Beschäftigtengruppen ins Wanken gerieten, wollten diese vor allem "mitreden". Selbstbewusst setzten sie sich mit den Plänen des Managements auseinander und brachten eigene Ideen ein, um Arbeitsplätze zu sichern und die Arbeitsbedingungen aktiv mitzugestalten. Als das Management ihnen wirksame Mitsprache und die verlangte Transparenz verweigerte, entwickelten sie andere Strategien, um sich mehr Durchblick zu verschaffen und "beste Lösungen" vorschlagen zu können. Die wachsende Präsenz der IG Metall im Unternehmen, ihre präzisen und zutreffenden Analysen sowie die auf Betriebsversammlungen, in den Veröffentlichungen des Betriebsrats und in etlichen Gesprächen gezeigte Kompetenz sorgten dafür, dass immer mehr Beschäftigte der Gewerkschaft vertrauten. Eine 1991 gestartete
Mitgliederwerbekampagne ("Heavy Metal") mit einem eigens dafür entwickelten Logo half mit, die IG Metall noch stärker bekannt zu machen und Identität zu stiften. Als dann die erste Entlassungswelle anrollte, verzeichnete die Gewerkschaft einen sprunghaften Mitgliederzuwachs. Während sich das Management noch immer hinter undurchsichtigen Plänen verschanzte und es weiterhin ablehnte, über die Forderungen der Beschäftigten zu verhandeln, starteten die Belegschaften ihre aktive Gegenwehr.

Wolfgang Müller, damaliger Betriebsratsvorsitzender der Deutschlandzentrale von Digital in München:

"Für unseren Streikerfolg gab es mehrere Faktoren: erstens unsere
Botschaft: Wir sind die IG Metall bei Digital!; zweitens die schnelle Kommunikation zwischen den Standorten und innerhalb der Belegschaft. Wir setzten dabei auf Internet und E-Mail. Dadurch erfuhren die Beschäftigten sofort, wenn etwas Wichtiges an den anderen Standorten passierte. Und natürlich lancierten wir Informationen, um die Geschäftsführung an den Verhandlungstisch zu bewegen. Damit erlangten wir die Meinungsführerschaft im Unternehmen.
Entscheidend war auch, dass wir die öffentliche Meinung hinter uns hatten. Als der Streik am 14. Juni in Berlin begann, berichtete die ARD am selben Abend in der Tagesschau. Der Spiegel, die Frankfurter Allgemeine, die Frankfurter Rundschau und das Handelsblatt ließen nicht lange auf sich warten und berichteten ebenfalls über den Streik mit Schlips und Kragen. Nicht zuletzt in der Lokalpresse stieß der Arbeitskampf bei Digital auf großes Interesse. Für die Medien war es eine Sensation, dass reine Angestelltenbelegschaften ihre Arbeit niederlegten. Daher die breite und ausführliche Berichterstattung."

Die Taktik

Systematisch Druck aufbauen

Ein Streik fällt nicht vom Himmel. Und er wird nie leichtfertig geführt, da eine große Verantwortung besteht und er hohe Risiken für alle Beteiligten mit sich bringt. Auch bei Digitalgalt es, genau abzuwägen, ob und wie ein Streik geführt werden könnte, um am Ende erfolgreich einen Tarifvertrag durchzusetzen. Die noch ein Jahr vor dem Streik relativ niedrige Organisation in der Belegschaft sprach gegen einen Streik. Weniger als 20 Prozent der Beschäftigten waren zu diesem Zeitpunkt bei DEC in der IG Metall organisiert. Aber die ersten Protestaktionen und Warnstreiks, zu denen die Gewerkschaft aufgerufen hatte und an denen sich viele Nichtmitglieder beteiligten, machten Mut. In fast allen Betrieben und Niederlassungen waren die Büros zu den verabredeten Zeiten nahezu leergefegt. Das überzeugte die Tarifkommission. Sie entwickelte eine systematische Streiktaktik, die auf ansteigenden Druck aufbaute. Nachdem sie die Geschäftsführung sowie den Europa-Manager im April 1993 erneut aufgefordert hatte, Tarifverhandlungen zu führen, diese aber kein Angebot vorlegten, beantragte sie beim IG Metall-Vorstand die Urabstimmung. Diese wurde dann am 3. und 4. Juni 1993 an allen Standorten durchgeführt. Im Ergebnis stimmten 84,9 Prozent der befragten Mitglieder für den Streik. Der Arbeitskampf begann am 14. Juni zunächst an beiden Standorten in Berlin und wurde tags darauf auf Bremen und Hannover ausgeweitet. Streikschwerpunkt waren die Standorte Köln, Essen und Siegen, die zusammen mit Hamburg am 17. Juni in den Streik eintraten. Am 25. Juni stießen noch die Standorte Darmstadt, Dresden, München und Nürnberg dazu. Am 22. Juni erklärte sich die Geschäftsleitung endlich dazu bereit, in Tarifverhandlungen einzusteigen. Doch erst am 26. Juni, nach einem über 60-stündigen Verhandlungsmarathon, gab es ein Ergebnis. Dieses wurde in einer weiteren Urabstimmung von 81 Prozent der IG Metall-Mitglieder bestätigt. Der Tarifvertrag trat damit zum 1. Juli 1993 in Kraft.

Dieter Scheitor, damaliger Betriebsrat und IG Metall-Vertrauenskörperleiter am Standort Köln/Essen, Mitglied der
Verhandlungskommission:

"Wir haben gegenüber der Belegschaft immer wieder betont, dass wir
Beschäftigungssicherung auf dem Verhandlungsweg erreichen wollten.
Doch als die Geschäftsführung in keiner Weise auf unsere Aufforderungen reagierte, war klar: Wenn wir uns nicht wehren, werden die einen massiven Kahlschlag durchziehen. Die Warnstreiks waren Testläufe, um zu prüfen, ob die Beschäftigten hinreichend hinter den Forderungen standen. Sie funktionierten. Einen Streik kann man nur erfolgreich führen, wenn man wirksam Druck auf den Arbeitgeber ausüben kann. Eine starke Rolle bei den Aktionen nahmen die Kundendiensttechniker ein. Aber auch viele Softwarespezialisten und Kolleginnen und Kollegen aus anderen Beschäftigtengruppen bis hin zu Beschäftigten aus dem Vertrieb beteiligten sich. Als die Wartungsarbeiten über Tage hinweg vor allem in sensiblen Bereichen von Industriefirmen und im Finanzsektor liegen blieben, weil die DEC-Techniker streikten, hatte das erhebliche wirtschaftliche Folgen. Damit trafen wir Digital an einer empfindlichen Stelle. Noch während des Streiks erfuhren wir, dass die Geschäftsführung den Einsatz von Streikbrechern geplant hatte. Die aber hätten kaum etwas ausrichten können, weil sie das Kundenumfeld gar nicht kannten. Das sah wohl auch die Geschäftsführung ein - und gab schließlich nach."

Der Artikel entstammt dem IT Magazin der IG Metall.

Letzte Änderung: 17.06.2013